Äthiopien: „Gibt es Kinderehen auch in Österreich?“

Je weiter wir fahren, desto weniger Menschen sind auf der Straße. Dennoch treffen wir immer noch viele Gruppen mit ihrem Vieh auf dem Weg zum Markt, um es zu verkaufen. Unter dem Arm ein Huhn und eine Ziege an einem Seil ziehend. Wir kommen an hohen Hütten vorbei, die aus langen Holzstäben gebaut sind. Die Frauen sitzen vor ihren Hütten und kochen auf kleinen Feuerstellen. Mädchen tragen gelbe Kanister mit Wasser. Auf den Feldern stehen Jungen auf einem kleinen Hügel und beaufsichtigen ihre Viehherden.

CARE-Nothelferin Sarah Easter mit Kühen in Äthiopien CARE-Nothelferin Sarah Easter mit Kühen in Äthiopien

Nach fast zwei Stunden auf dem Feldweg endet die Straße plötzlich. Wir müssen zu Fuß weiter zu einem kleinen Dorf, in dem CARE mit der Gemeinde zusammenarbeitet. Ich halte an, um eine Kuh zu streicheln, die mir zum Dank einen Tritt verpasst. Mehr als einmal bleiben meine Schuhe im dicken Schlamm stecken. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch erreichen wir das Dorf. Ich sitze in einer dieser hohen Holzhütten auf einem kleinen Hocker mit einer starken Tasse Kaffee.

Frauen gehen stundenlang

Die Frau, die hier lebt, erzählt mir, dass sie und ihre Nachbar:innen jeden zweiten Tag den Weg in die nächste Stadt, durch die wir gerade gekommen sind, mit dem Auto zurücklegen. Dort verkaufen sie ihre Ernte, ihr Vieh, Milchprodukte oder Eier und kaufen sich Lebensmittel. Zusätzlich gehen sie jeden Tag bis zu zwei Stunden mit ihren Kanistern auf dem Rücken, um Wasser zu holen. Ich bin nur eine halbe Stunde gelaufen und fühle mich schon erschöpft, weil das Gelände nicht einfach zu begehen ist. Diese Frauen und jungen Mädchen gehen diese Wege jeden Tag stundenlang mit schweren Wasserkanistern auf dem Rücken.

CARE-Nothelferin Sarah Easter beim Kaffeekochen in Äthiopien CARE-Nothelferin Sarah Easter beim Kaffeekochen in Äthiopien

Jedes Dorf und jedes Zuhause, das ich betrete, sind offen und einladend. Während meiner Zeit in Äthiopien bin ich zu hundert Tassen Kaffee und vielen Mittagessen eingeladen worden. Die Gemeindemitglieder sprechen offen mit mir darüber, wie sich die Einstellung zur Frühverheiratung geändert hat. Dass sie mit der Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung aufgehört haben und offen miteinander über Verhütungsmaßnahmen sprechen. Ein Mann erzählt mir stolz, dass er jeden Tag das Frühstück für seine Frau kocht. Früher hätte er das als große Beleidigung empfunden. Ein anderer Mann hält sein kleines Mädchen schützend im Arm und erklärt mir, dass es nicht beschnitten wurde. Ein Vater erzählt mir lächelnd, dass seine Tochter mit ihm verhandelt hat, um ihre Ehe zu annullieren, und dass er ihr zugestimmt hat.

CARE-Nothelferin Sarah Easter mit Gruppe von Gemeindemitgliedern, Projekt BERHAN CARE-Nothelferin Sarah Easter mit Gruppe von Gemeindemitgliedern, Projekt BERHAN

Der Heimweg in der Gruppe

Als ich mich einer Gruppe von Gemeindemitgliedern nähere, die in einem großen Kreis sitzen, tauschen sie sofort die Plätze, um einen kleinen Stein für mich freizumachen, damit ich mich zu ihnen setzen kann. Das gibt mir das Gefühl, ein gleichberechtigter Teil der Gruppe zu sein. Als ich mit meinen Fragen fertig bin, beginnen die Gemeindemitglieder, mir ihre eigenen Fragen zu stellen. Gibt es in Österreich und Deutschland schädliche Praktiken wie Kinderehen? Wie löst ihr Probleme? In welchem Alter heiratet man in eurem Land? Bist du verheiratet?

Ich nehme Terhune, eines der Gruppenmitglieder, zur Seite, um ihr noch ein paar Fragen zu stellen, und ich danke der Gruppe, dass sie sich die Zeit genommen hat, denn ich weiß, dass ihre Familien auf sie warten. Während ich mit ihr spreche, sehe ich, dass die Gruppe immer noch zusammensitzt. Auf meine Frage, warum, erklärt Terhune mir, dass sie auf sie warten: Sie gehen immer gemeinsam nach Hause. Ich frage sie, wie weit ihr Zuhause entfernt ist. Sie brauchen dafür eine Stunde. Ich beende das Gespräch schnell, damit die Gruppe nach Hause zu ihren Familien gehen kann und bin sehr dankbar, dass sie so weit gelaufen sind, um mit mir zu sprechen. Sie lachen nur und laden mich zum Mittagessen und Kaffee ein.

Überwindung von Tabus

Die Gemeinschaften, die ich besucht habe, sind voller Bewegung: Sie gehen weite Strecken zu Fuß, arbeiten auf ihren Feldern, kochen vor ihren Hütten und kümmern sich um ihr Vieh. Sie kümmern sich umeinander und beziehen sich gegenseitig in ihr Leben und ihre Entscheidungen ein. Sie warten aufeinander, essen und kochen gemeinsam und behandeln sich gegenseitig als Gleichberechtigte. Sie sind stolz auf ihre Erfolge, wie z. B. die Genitalverstümmelung bei Frauen in ihrer Gemeinde zu beenden. Es ist erstaunlich zu sehen, wie offen sie über Themen sprechen, die vor nicht allzu langer Zeit noch als Tabu galten. Und wie sie sicherstellen, dass jedes Mädchen gesund und alt genug für die Ehe ist.

CARE-Nothelferin Sarah Easter in einer Mädchengruppe in Äthiopien, Projekt BERHAN CARE-Nothelferin Sarah Easter in einer Mädchengruppe in Äthiopien, Projekt BERHAN

Erfahren Sie mehr über die Projekte von CARE in Äthiopien, die durch die Austrian Development Agency (ADA) aus Mitteln der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit gefördert werden:

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